Abschied von der Kindheit und Lehrzeit des Walter Hartung in Eschwege und Kassel

Es wäre schade, wenn die Erinnerungen an die Kindheit und die Erlebnisse nach Beendigung der Schulzeit nicht schriftlich festgehalten würden. Alle Ereignisse und Erfahrungen der Jugendzeit würden im Meer des Vergessens versinken.

Ich hatte ein schönes Zuhause, hatte immer genug zu essen und mußte auch nicht frieren. Wenn wir allerdings nicht rechtzeitig die Klibber auch dem Holzschuppen geholt und in die Holzkiste neben dem Herd  gefüllt hatten, konnte es schon einmal passieren, daß unsere Mutter aus Erziehungsgründen (!?) das Feuer im Herd ausgehen ließ und wir im Kalten saßen.

Walter Hartung

Arme Leute gab’s genug, die sich buchstäblich hungernd und frierend  durchs Leben schlagen mußten. Meist lag es daran, daß sie zu früh zuviel Kinder hatten und überdies nicht einteilen konnten. Ich genoß es, nicht zu den „Armen“ zu gehören und mit den Kindern dieser Leute zu spielen. Sie waren meine „Geleitsmännchen“ (ein Ausdruck unseres Vaters)  und holten für  einen  „Wecke“  für mich Holz und Kohlen in die Küche oder kehrten unter meiner  Aufsicht die Straße. Bei allen Spielen war ich der Boß und entschied wer mitspielen durfte. Beim heißgeliebten  Feuerwehrspiel mit Schubkarren und angebundener  Leiter benötigte ich diese Spielkameraden als Hilfsmannschaft und Zugpferde. Ich stand auf der Leiter und gab kurze Befehle.

Es waren herrliche Zeiten für mich, der Vater und die beiden älteren Brüder im Krieg und unsere gutmütige Mutter ließ mich gewähren. Auch im Hause hatte ich das Kommando.

In meinem kindlichen Unverstand wünschte ich mir, daß der Krieg noch Jahre andauert und  meine „Freiheiten“ noch lange erhalten blieben.

Lehre bei Bäckermeister Hermann Albrecht in Eschwege

Schneller als ich befürchtete, war die Herrlichkeit zu Ende. Mit der Entlassung aus der Volksschule hörten die schönen Flegeljahre auf, denn in Eschwege wartete die Lehrzeit auf mich.  Da ja kein Bahnhof mehr da war (die große Explosion zu Ende des Krieges hatte ihn hinweggefegt) fuhren  Mutter, Bruder Henner und ich mit dem Bus  des Herrn  Severing nach Eschwege. Mit Bettzeug im großen Koffer kamen wir bei Bäckermeister Hermann Albrecht an. Die Sachen wurden auf das Zimmer gebracht, und da es zufällig Samstag war, drückte mir Herr Albrecht sogleich einen Reiserbesen in die Hand und ich mußte die Straße kehren. Kurzerhand schickte er die Mutter nebst Hennerchen weg und ich war allein.

Wie es mir zumute war, kann man gar nicht schildern. Vierzehn Jahre alt und das erste mal im Leben konnte ich abends nicht nach Hause gehen.  Essen bekam ich beim Lehrherrn, aber er und seine Familie , sowie die „Dienstspritze“, haben im Esszimmer gegessen. Da saß ich mit Tränen in den Augen allein  in der Küche und konnte vor Kummer nichts essen. Ich bin dann bald auf mein Zimmer gegangen und habe mich früh ins Bett gelegt und bei vielem Heulen bin ich dann eingeschlafen.

Wir haben Gott-sei-Dank am nächsten Tag backen müssen und zwar für die Amerikaner auf der Rinne. So war ich wenigstens beschäftigt und hatte keine Zeit dauernd traurig zu sein.

Ich mußte vier Wochen arbeiten, dann durfte ich am Wochenende nachhause Ich  bin dann mit Rucksack vom Bahnhof Eschwege auf den Eisenbahnschwellen nach Waldkappel getippelt. Alle drei haben uns riesig gefreut, daß wir wieder zusammen sein durften. Nur mußte ich am Sonntagnachmittag wieder auf den Schwellen nach Eschwege laufen. Mutter und Hennerchen haben mich bis aufs  Eichholz begleitet. Der Abschied war schwer. Das Laufen größerer Strecken war zu damaliger Zeit nichts Außergewöhnliches. Wie mir Willie Eimer erzählte, mußte  auch er jeden Tag nach Schemmern und abends wieder zurück laufen. Er „genoß“ beim Sägewerk Gunkel eine harte Lehrzeit und wurde dort zu schwerer Arbeit eingesetzt.

Wochen später haben die Amerikaner erlaubt, wieder die Landstraße zu benutzen. Man mußte für jede Heimfahrt am Freitag bei den Amerikanern eine Erlaubnis einholen, die für Samstag und Sonntag galt. Zum Glück hatten wir von Ruth Kießling ein Fahrrad im Keller stehen und das habe ich dann benutzt.

In der Zwischenzeit war unser Vater und Bruder Werner wieder gesund zu Hause angelangt und mit der Wiedereröffnung der Bäckerei gab es dann auch Mittel und Wege für etwas Schwarzhandel. Weil  mir von einem Bäcker Ruths Fahrrad gestohlen wurde, brauchte ich dringend ein anderes Fahrrad, das nur im Schwarzhandel zu bekommen war.   Übrigens, weder Ruths Fahrrad noch den Dieb habe ich  jemals wiedergesehen..

Herr Pfannebecker, der Backstubenchef bei Albrecht, hatte Mitleid mit mir und versprach, mir ein Fahrrad zu besorgen. Mit viel Klagerei und hin und her, hat unser Vater eingewilligt, daß ich das Fahrrad bekam. Es kostete eine dicke Wurst, ein geschlachtetes Huhn und eine Viertel Seite Speck. Tatsächlich brachte Pfannebecker während der Woche um vier Uhr morgens ein Fahrrad mit. Er wohnte bei seinen Schwiegereltern (Bezirksschornsteinfegermeister Sippel) und in dieser Gegend wohnten viele Amerikaner. Das Fahrrad stand am Haus eines Amerikaners und das hat er einfach mitgenommen. Er meinte, die hätten es geklaut, aber er hätte es nur wieder mit zurück zu den Deutschen genommen. Er gab mir das Fahrrad und meinte, ich solle ihn mit dem Fahrrad nicht besuchen kommen, denn er wohnte in der Pontanistraße und  ein anderer Stift und ich  gingen einmal in der Woche zu ihm. Er war in seinem Beruf ein großer Könner und hat Berufsschullehrer gespielt und uns viel beigebracht. Er war ein Tausendsassa auf allen Gebieten und ein zweiter Vater zu mir. Das herzliche Verhältnis hat jahrzehntelang angedauert. Er nannte mich  übrigens stets nur „Motze“, das ich ihm nicht übel nahm, weil das seine Art war, seine Wertschätzung für mich zum Ausdruck zu bringen..

Die Lehrzeit bei Bäcker Albrecht in Eschwege war überall als die strengste bekannt. Sein Sohn Eugen, den ich zufällig 1998 in Wanfried getroffen habe, hat mir versichert, daß sein Vater die Lehrlinge unmenschlich behandelt hat. Das Verhalten meines Lehrherrn konnte ich unserem Vater damals nicht erzählen, denn er hätte nur gesagt: „Jo,  Lehrjohre senn kenne Herrenjohre“.

Dabei hätte er nicht gewußt, wovon er sprach, denn sowohl er als auch mein ältester Bruder haben in ihrer Jugendzeit nie für fremde Leute arbeiten müssen. Trotz allem habe ich viel gelernt und weder körperlich noch geistig Schaden erlitten. Die Liebe zum Bäcker- und Konditorenhandwerk habe ich nie verloren.

Nach  der Gesellenprüfung in Eschwege habe ich sofort Schluss gemacht bei der Firma Albrecht und bin heim gefahren. Zuhause waren nicht alle sehr begeistert von meinem plötzlichen Erscheinen, denn sie wußten nicht recht, was sie mit mir anfangen sollten. Sowas wurde ja nie vorher besprochen.

Jedenfalls habe ich nach einigen Tagen Faulenzerei in der Backstube angefangen zu arbeiten. Dadurch brauchten Werner und  Vater etwas weniger zu  arbeiten – was Vater besonders begrüßte. Er war sowieso nicht gern in der Bäckerei und hat sich lieber mit dem Garten und dem Federvieh beschäftigt. Aber nach kurzer Zeit wurde Konrad Wehner, einem  Kriegskameraden  von Bruder  Werner, der seit Wiedereröffnung der Bäckerei  bei Hartungs tätig war, gekündigt, weil  keine ausreichende Arbeit vorhanden war. Die Geschäfte liefen am Ort schlecht und die Belieferung der umliegenden Dörfer war mit viel Mühe und Kosten verbunden.

Gar bald zeigte sich, daß auf  die Abwesenheit von Konrad nicht verzichtet werden konnte. Es wurde einfach für die beiden Chefs zuviel und so wurde er wieder eingestellt. Ich  arbeitete von April 1948 bis April 1949 sehr gut  mit ihm zusammen;    in fachlicher Hinsicht  ergänzten wir uns und gingen auch  vernünftig miteinander um.

Ich nutzte dieser Zeit und machte mit Willie Eimer zusammen den Führerschein in  Eschwege bei Herrn Fiege. Es war wohl etwas Humbug, denn zum Autofahrern kam ich nicht.  Auf alle Fälle hatte ich den Führerschein und war später froh, diesen Lappen schon zu haben.

(Fortsetzung folgt in 1 Monat: Ausbildung  bei Firma  Helferich in Kassel)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert