Wer hat die Melodie des Kirmesständchens „Minne Ahle kocht Schelee“ nicht im Ohr, wenn die Sprache aufs Feste feiern in alter Zeit kommt. Diese flotten Takte, die so richtig die gelöste Atmosphäre des Vergnügens widerspiegelten und die Stimmung aufheizte, wurden während der Kirmes so oft gespielt, wie heute den Narhallamarsch beim Karneval.
Auch die Kappeläner verstanden es, ihr Kirmesfest zu feiern. Leider recht spät im Jahr. Nach einer alten Tradition feierten die beiden kurhessischen Orte Waldkappel und Renda (im Ringgau) die Kirmes erst anfangs November nach dem alten Spruch: „Erst in Kabbel unn in Rennge (Renda) genn die Kirmsen z‘ Ennge (Ende)!“
Die Organisation lag meist in den Händen junger Burschen. Wurden keine gefunden, die sich zur Verfügung stellen wollten, übernahm schon einmal ein Verein die Ausrichtung der Kirmes. Vom ursprünglichen Inhalt hatte sich die „Kirchweih“ auch in Kabbel schon lange entfernt. Man feierte nicht mehr die Einweihung des Gotteshauses, sondern freut sich einfach an Musik, Tanzvergnügen und am Herumtoben. Es war das Ereignis des Jahres, auf das man sich schon Monate zuvor freute. Die Mädchen führten ihre neuen Kleider aus und auch die jungen Burschen warfen sich „in Schale“ um der Weiblichkeit zu gefallen.
Für uns Kinder begann die Kirmes mit dem Eintreffen der Buden und Schausteller. Die Größe des Festes wurde gemessen an der Anzahl der Buden und Fahrgeschäfte. Eine der wichtigsten Verkaufsstände war die „Zuckerbude“ von Stückrath, der regelmäßig aus Eschwege angereist kam. Mit Spannung wurde die Öffnung dieses Verkaufsstandes, der aus Latten und blaugestreiftem Segeltuch bestand, herbeigesehnt. Sonntagmorgen gegen 10 Uhr war es dann soweit. Eine Clique Kinder hatte sich bereits eingefunden und drängelte nach vorn , um die sich bietende Pracht zu bewundern. Ein langer Tisch mit „Schnuckwerk“ und buntem Firlefanz präsentierte sich unseren Kinderaugen, die noch nicht von Supermärkten und Fernsehwerbung verwöhnt waren. Welch ein Duft schlug uns entgegen! Eine Mischung aus Gebrannten Mandeln, Bonbons und Pulverdampf umschmeichelte unsere Nasen und ließ hohe Genüsse erwarten. Neben Dosen mit Salmiakpastillen und Lakritze in verschiedenen Formen, lagen die Gliggsduden (Wundertüten), die bunten Zockerschdeine (Bonbons) sowie die Leckmaldrans (Lutscher). Die kleine Ausführung der Leckmaldrans kostete fünf Pfennig und war damit das richtige Objekt für die meist sehr schmalen Geldbeutel und die etwas größeren waren für einen Groschen zu haben. Weil als „Zugabe“ auch noch ein Fingerring am Stiel hing,war diese Ausführung die bevorzugte Süßigkeit für die kleinen Mädchen.
Gern gekauft wurden neben den Nappos auch die kleinen weißen Tabakspfeifchen aus gebranntem Ton., die Liebesperlen enthielten und mit einem Blechdeckel verschlossen waren. Wir nannten sie Mudzbfiffen oder auch Kleberchen. Da sie voll funktionsfähig waren, konnte manch älterer Junge der Verlockung nicht widerstehen, den Pfeifenkopf einmal mit Tabakresten zu füllen, diese anzuzünden und heimlich ein paar Züge zu machen. Meist war eine Übelkeit die Folge dieses „Genusses“. Sehr begehrt waren die Knallerbsen. Das Stück kostete einen Pfennig. Sie befanden sich in einem flachen Korb, der aus Sicherheitsgründen zusätzlich mit Sägespäne gefüllt war. Es dauerte eine Weile, bis Herr Stückrath die Kügelchen aus dem Korb gefischt und sie den Bestellern in die Hand gedrückt hatte. Mit diesen kleinen Kügelchen, die etwas Pulver enthielten, ließen sich herrlich die Leute erschrecken.. Neben einen Hund oder eine Katze geworfen, schlugen diese kleinen „Bömbchen“ die unschuldigen Tiere augenblicklich in die Flucht.
Ein Ereignis rund um die Knallerbsen ist mir in deutlicher Erinnerung geblieben. Im Übermut hat ein großer Flegel eines dieser Kügelchen über die Köpfe der vor der Zuckerbude stehenden Kinder geworfen und dabei unglücklicherweise den Korb mit den Knallerbsen erwischt.. Welch eine Kettenreaktion hat dieser Leichtsinn ausgelöst. Mit riesigem Getöse explodierte der ganze Vorrat an Knallerbsen und die Kostbarkeiten von Herrn Stückrath waren mit Sägemehl gepudert. Er war entsetzt und eine ganze Weile sprachlos. Zum Glück ist kein Kind zu Schaden gekommen und die Unordnung war schnell beseitigt.
Die älteren Jungen hatten bald „spitz“, wo die heißbegehrten Kibbenmesser (Taschenmesser) und „Bulwerschdobben“ (Pulverstopfen) liegen. Mit Letzteren konnte man gewaltigen Krach machen und die Leute damit erschrecken.. Um den Lärm noch zu verstärken und einen Kanonenschlag vorzutäuschen, hielt man die dazugehörigen „Pistolen“ in die Fallrohre der Dachrinnen und erzeugte damit eine Verdoppelung des „Lärms“. Für die ganz Kleinen gab’s Zündplättchen einzeln und in Rollen. Die kleinen Mädchen bevorzugten Liebesperlen, Abziehbilder und glänzenden Schmuck in Kirmesqualität. Leider waren unsere Groschen gezählt und man brauchte lange Zeit, um sich für etwas zu entscheiden. Ein Mohrenkopf, Waffelbruch oder eine bunte Riesenwaffel krönte in vielen Fällen die Wünsche..
Kam zu der Zuckerbude noch eine Schießbude, war das Fest für uns Kinder gesichert. Stundenlang haben wir den „Scharfschützen“ zugeschaut. Meist erschienen die flotten Tänzer mit ihren heißgetanzten „Damen“ zum Abkühlen auf dem Festplatz und schossen eine herrliche Papierblume nach der anderen. Hier konnte man zeigen, was man drauf hatte und wie großzügig man war. Noch schnell einen Mohrenkopf für die Dame und schon ging`s wieder zurück ins Tanzgewühle.
Die Glückseligkeit war nicht zu steigern, wenn sich auch ein Karussell eingefunden hatte, das mit lauter Musik, zu der eine bunte Figur an der Kirmesorgel den Takt schlug, die Fahrgäste anlockte. Noch ging es gemütlich zu, kein elektrischer Antrieb machte Lärm und brachte die Karussellpferdchen auf Trab und die Feuerwehrautos zum Drehen. Kräftige Jungenhände drehten den „Laden“ mit Muskelkraft. Als Lohn erwarb man sich mehrere „Freifahrten“. Stundenlang lungerten wir Kinder auf dem Festplatz (Lohplatz) herum, um sich ja nichts entgehen zu lassen. Eine Regenschauer war noch lange kein Grund, den Platz zu verlassen.
Für die Erwachsenen begann die Kirmes bereits am Samstagabend. Auf den Sälen luden Blaskapellen mit flotter Musik zum Tanzen ein. Die Kirmesburschen standen an den Türen und begrüßten die Gäste mit Hallo. Gegen geringes Entgelt wurde ihnen eine „Gesundheit“ gespielt, dazu konnte man, sich ein Lied wünschen, und zum Schluß kam immer der Kirmesmarsch „De Ahle kochd Schelee“. Die Angekommenen wurden während der Musik in die Mitte genommen und und heftig im Saal herumgewirbelt. Für diesen Willkommensgruß mußte eine Spende in die Kirmeskasse gelegt werden. Natürlich waren wir Kinder dabei und hopsten kräftig mit. Gegen 9 Uhr am Abend war die Tanzfläche meist derart überfüllt, daß die Kirmesburschen mit ihren „Klatschen“ eingreifen oder eine Polonäse über den Hof geleiten mußten.
Wir Kinder durften bis zur Abendbrotzeit mit den Erwachsenen auf dem Saal bleiben und die Tanzfläche zwischen den einzelnen Tänzen benutzen. Der Boden war herrlich glatt und lud zum Schurren von einer Seite zur anderen ein. Die Erwachsenen und insbesondere die jungen Burschen und Mädchen feierten bis in die Morgenstunden und ließen keinen Tanz aus. Manch zarte Bande aber auch manch Eifersuchtszene nahm hier ihren Anfang.
Das Fest dauerte auch am Montag noch an. Die Musikanten zogen mit den meist übernächtigten Kirmesburschen von Haus zu Haus und spielten die sogenannten „Ständchen“. Nicht immer spielte die Kapelle ein Wunschlied, sondern etwas Anzügliches, wo es gerade hinpaßte. Wußte man von ehelichen Verfehlungen kam es schon einmal vor, daß man: „Du kannst nicht treu sein“ spielte. Hinter jedem Stück kam wie das Amen in der Kirche der KirmestGeusch: „De Ahle kochd Schelee“. Meist brachten die Ständchen eine Spende ein, die die Kirmeskasse füllte. Als Dankeschön wurde ein Schnaps ausgeschenkt, der auch freudig angenommen wurde. Gegen Mittag fand man sich zu einem Kirmeszug zusammen, der von den mit Blumen geschmückten Kirmesburschen und ihren Mädchen angeführt wurde. Eine Fahne, bestehend aus einer bunten Tischdecke, flatterte ihnen voran. Die nicht mehr ganz nüchteren Musikanten sorgten für Stimmung und Klamauk. War ein Kirmesbursche berauscht und nicht mehr ganz gehfähig, konnte es passieren, daß er in einem alten Kinderwagen im Festzug mitgeführt wurde – zum Hallo der den Festzug begleitenden Kinderschar!
Am Nachmittag ging dann wieder der Tanz los, der bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Damit war die Kirmes aus. Aber noch lange bot sich ein Fülle an Gesprächsstoff über die Kirmes. Was hatte sich nicht alles ereignet in den zwei Tagen. Jede Kleinigkeit mußte besprochen werden. Besonders im Gespräch waren die Suffschnudden und Thekensteher, die wieder einmal die Hucke voll hatten, daß sie nicht mehr geradeaus gehen konnten. Von den Krakeelern, die Streit anfingen, der sich zu einer ausgewachsenen Schlägerei auswachsen konnte, wollen wir hier nicht reden. Sowas kam recht selten vor und war in unserer Gegend auch nicht üblich – schließlich gehört Waldkappel nicht zu Bayern. Ab Dienstag kehrte der Alltag wieder ein. Nur die Müdigkeit erinnerte noch an die erlebnisreichen Tage. Der Wecker regierte wieder die Morgenstunde und nahm auf Katerstimmungen keine Rücksicht mehr.
Verfaßt von Helmut Hartung, 34246 Vellmar-West 10/99