Die Zeit ging dahin. Das „Lotterleben“ in Waldkappel machte auf Dauer keinen Spaß mehr. Allmählich keimte in mir der Wunsch, mich selbstständig zu machen, auf eigenen Füßen zu stehen um nicht immer nach der Pfeife anderer tanzen zu müssen. Schließlich war ich mir meines beruflichen Könnens bewußt und es dämmerte mir so langsam, daß man als Arbeitnehmer kein großes Geld machen kann. Dazu kam, daß es überall wirtschaftlich bergauf ging und auch die kleinen Geschäftsleute gutes Geld verdientenSo auch bei Hartungs in Waldkappel. Moderne Maschinen wurden angeschafft und Herr Riebel von der Firma Riebel und Lehmann wußten Vater und Bruder Werner davon zu überzeugen, daß auch ein neuer Backofen fällig sei. Es dauerte nicht lange und der Auftrag wurde erteilt. Die Firma Oberle, die bei den Bäckern einen guten Ruf genoss, lieferte den noch mit Kohle zu befeuernden Ofen in Einzelteilen, die an Ort und Stelle zusammengesetzt wurden. Für mich, der sich für technische Dinge immer interessierte, war es eine Freude, dem Monteur (Herrn Kammerer) beim Arbeiten zuzuschauen. Er hatte mich gleich in sein Herz geschlossen, aber auch ich hegte freundschaftliche Gefühle für ihn. Er schaute mir öfters bei meiner Arbeit zu und empfahl mir, meine guten Fachkenntnisse in einem größeren Bäckereibetrieb einmal vorzuführen. Die gegenseitige Symphatie gedieh so weit, daß wir sogar einige Male gemeinsam ausgegingen und uns auch viel privat unterhielten. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir beide z.B. auf der Hoheneicher Kirmes ordentlich einen drauf gemacht haben.
Herr Kammerer stellte anschließend einen Oberle-Backofen in Nicosia (auf der Insel Cypern) auf. Dem Firmenchef (A.C. Vassiades) hat er gesprächsweise von mir und meiner Arbeit erzählt und dabei erwähnt, daß ich evtl. bereit wäre, nach Zypern zu gehen. Herr Vassiades war hellauf begeistert, einen deutschen Fachmann zu gewinnen, der ihm den modernen Ofen sachgerecht „einbacken“ würde. Herr Vassiades bot mir einen Arbeitsplatz in seinem Betrieb an.
Ich nahm das Angebot mit Freuden an und gab meinen Entschluß bekannt, demnächst nach Cypern zu reisen. Wie ein Lauffeuer ging meine Entscheidung durch Waldkappel. Viele wollten Näheres wissen und sogar die Kasseler Zeitung veröffentlichte einen Artikel mit der Überschrift „Bäckermeister Hartung fährt nach Cypern“. An dieser Stelle möchte ich einige Passagen aus diesem Zeitungsartikel wiedergeben, die die damalige Stimmung gut widerspiegeln:
„Für ein halbes Jahr wird Walter Hartung auf der englischen Mittelmeerinsel Zypern einen deutsche Spezialbackofen in der großen Mehl- und Brotfabrik „Flowerand Bread Ltd.“ in der zyprischen Hauptstadt Nicosia einbacken. Seit einigen Monaten haben die Hartungs in ihrer Bäckerei in Waldkappel einen „Oberle-Dampfbackofen“, der im Schwarzwald gebaut wird und einer der modernste deutschen Öfen ist. Er arbeitet nicht nur besonders sauber (davon redet die Hartungsche Backstube ihre eigene Sprache), sondern die Türen tropfen nicht (ein wesentlicher Vorteil für den Bäcker) und außerdem kann er von der Seite beheizt werden….“
Jetzt hatte ich ein konkretes Ziel vor Augen. Schlagartig war Schluß mit dem Ladderleben. Denn ich mußte nunmehr Vorbereitungen für die Reise treffen, die zur damaligen Zeit nicht einfach waren. So wurde nicht nur ein Visum für Zypern, sondern auch zwei Durchreisevisen für die Schweiz und Italien benötigt, die über die dafür zuständigen Konsulate zu beschaffen waren.
Vorsorglich habe ich mir zwei überdimensionale Tropenkoffer besorgt und in meinem Zimmer aufgestellt, die mich ständig daran erinnerten, daß eine große Veränderung bevorstand und es bald galt von der Heimat Abschied zu nehmen. Natürlich auch von den zahlreichen Freundinnen und Freunden!
Nachdem ich vom britischen Konsulat in Frankfurt/Main endlich mein Visum für Zypern erhalten hatte, fuhr ich an einem Sonntagmorgen im Juni 1953 mit meinen großen Koffern und einem Kofferradio(!) Richtung Süden. Mein erstes Ziel war Villingen im Schwarzwald. Als ich endlich in Villingen ankam und mich abends ins Bett legte, wurde mir so richtig bewußt, was ich mir da auf die Schultern geladen hatte. Meine geringen Sprachkenntnisse machten mir die meisten Sorgen.
Gut ausgeschlafen stellte ich mich am anderen Morgen vereinbarungsgemäß bei der Firma Oberle vor. Dort blieb ich einen Tag. Hier hatte ich Gelegenheit, die große Backofenbaufirma (die jetzt ein Konzern ist) zu besichtigen und mich mit ölbefeuerten Öfen vertraut zu machen. Der Firmenchef hat sich zu meiner Überraschung persönlich um mich gekümmert und mir vieles gezeigt und erklärt. Der ursprüngliche Plan, in einer schweizer Bäckereibetrieb einige Zeit tätig zu sein, konnte aus Zeitmangel nicht verwirklicht werden.
Mein Schiff ging am 4. Juni 1953 von Venedig aus und erreichte nach einen zauberhaften Fahrt durch die Adria und die Aegäis nach fünf Tagen Limassol auf Zypern. Mit einem Linienbus ging’s weiter nach Nicosia, der Hauptsadt von Zypern. Herr Vassiades hat mich herzlich willkommen geheißen.
Zu meinem Entsetzen mußte ich ch bei der Ankunft feststellen, daß meine Tasche mit allen Papieren im Bus liegengelassen war. Ich war untröstlich und glaubte,alles auf Nimmerwiedersehen verloren zu haben. Zu meiner großen Freude war ich aber noch am gleichen Tage wieder im Besitz dieses für mich so wertvollen Gepäckstücks. Ein Mitreisender, mit dem ich mich während der Fahrt angefreundet hatte, hatte mein Mißgeschick bemerkt, die Tasche kurzentschlossen an sich genommen und über Herrn Vassiades mir wieder zugeleitet. Mir fiel ein großer Stein vom Herzen und sah der Zukunft wieder gelassen entgegen.
Herr Vassiades hat mir zunächst ein Verbleib von 6 Monaten in Aussicht gestellt. Länger wollte ich sowieso nicht bleiben, denn ich beabsichtigte hier vorwiegend meine Fachkenntnisse zu erweitern um mich später einmal selbstständig machen zu können. Natürlich habe ich auch mein Fernweh befriedigt und wollte auch wissen, ob die Mädchen im Ausland genauso lieb sind, wie die in Kappel und Umgebung.
Mir fiel es nicht schwer, mich in dem modernen Betrieb einzuarbeiten und Backwaren in guter Qualität herzustellen. Hin und wieder war es nötig, das einheimische Personal auf Trapp zu bringen. Denn man nahm’s mit allem nicht so genau. Auch was die Sauberkeit anbelangte, waren einige Änderungen vonnöten. Der Chef, Herr Vassiades, unterstütze mich bei meinen Bemühungen und war sichtlich erfreut, daß durch meine Anwesenheit frischer Wind in den Betrieb gekommen war und appetitliche Backwaren im Laden angeboten werden konnten.
Der Umsatz stieg und auch die englische Bevölkerung zählte gar bald zu unseren Kunden.
Es gab aber auch herbe Rückschläge, die mich zuweilen um den Schlaf brachten. So stellte sich urplötzlich die gefürchtete Brotkrankheit „Fadenziehen“ ein, die alle Backwaren ungenießbar machte. Ich war ganz verzweifelt, zumal mein Chef diese Krankheit nicht kannte und sonst etwas dachte. Zum Glück fiel mir die Firma Boehringer (Ingelheim) ein, die seit einigen Jahren ein bewährtes Mittel gegen diese gefürchtete Krankheit auf den Markt brachte. Ein Anruf genügte und das sehnsüchtig erwartete Mittel kam per Express bei Vassiades an. Kaum eingesetzt, war der Spuk verflogen und alle konnten wieder aufatmen.
Kummer machte mir auch ein junger Bäcker aus einem Nachbarort Waldkappels, der zu meiner Unterstützung von Herrn Vassiades eingestellt worden war. Leider entsprach er hinsichtlich der Arbeitsauffassung und der Moral weder mir noch meinem Chef. Statt pünklich im Betrieb zu erscheinen, trieb er sich in den Nachtbars rum und kam unausgeschlafen zur Arbeit. Er fügte dem deutschen Ansehen erheblichen Schaden zu.
Das erste Halbjahr war abgelaufen und mein Arbeitsvertrag wurde verlängert. Obwohl ich selbst mit dem Gedanken spielte, eventuell nach Amerika auszuwandern, stimmte ich der Vertragsverlängerung zu. Für alle Fälle lernte ich schon einmal englisch, zumal ich diese Sprache auch in Nicosia gut gebrauchen konnte und sie später vielleicht auch von Nutzen sein würde.
Die politischen Verhältnisse auf der Insel spitzten sich zu. Da der Engländer als Besatzungsmacht überall verhaßt war, gab es viel Schießereien und auch Tränengaseinsätze.
Aber auch die Feindschaft zwischen Griechen und Türken wurde immer größer und ließ keine gute Zukunft erwarten. Obwohl es mir im Betrieb von Herrrn Vassiades gut gefiel,, entschloß ich mich, die Insel recht bald wieder zu verlassen.
Ich überlegte, ob ich vielleicht nach Amerika gehen sollte, um dort mein Glück zu versuchen.
Ich wußte, daß unser Vater einen Onkel dort hatte, der vor vielen Jahren dorthin ausgewandert war. Ich schrieb deshalb an diesen Onkel (Adam Thon in Chicago) und erkundigte mich über die amerikanischen Bäckereien und Arbeitsmöglichkeiten. Zu meiner Freude schickte er mir eine günstige Nachricht und mein Entschluß stand fest, Amerika anzusteuern. Sogleich beantragte ich beim amerikanischen Konsulat ein Visum, welches ich nach kurzen Wartezeit auch bekam. Postwendend verständigte ich Onkel Adam vom erhalt des Visums, das mich verpflichtete, alsbald in die USA einzureisen.
Mit Bedauern hat Herr Vassiades meine Kündigung entgegen genommen. Er bat mich dringend, ihm einen deutschen Bäckermeister mit meinen Fachkenntnissen auszumachen. Da ich mit Herrn Pfannebecker seit meiner Lehrzeit in Eschwege in Verbindung stand, war es mir möglich, ihn für meinen Job in Zypern zu gewinnen. Herr Vassiades tat alles, um ihn so bald als möglich in Zypern zu wissen. Er ist schon eine Woche nach meinem Wiedereintreffen in Waldkappel nach Zypern abgereist. Es war aber noch genügend Zeit, ihm ausführlich von den Verhältnissen auf der Insel, so wie ich sie kennengelernt hatte, zu berichten.
Herr Pfannebecker war dann 8 Jahre auf Zypern und wir standen weiterhin im Briefverkehr bis zu seinem frühen Tod, der mich sehr betroffen gemacht hat. Er war für mich immer ein guter, ehrlicher Freund, von dem ich viel gelernt habe. Er war intelligent, umsichtig und ein Pfiffikus auf allen Gebieten.
Damit war die Zyperngeschichte für mich abgeschlossen. Ich hatte einen Sack Erfahrungen gesammelt und meine Englischkenntnisse erweitert. Schwer mit den Schätzen des Orients beladen (sprich: süffigen Rotwein) kam ich wieder in Deutschland an. Die Freude war groß und Vater Gustav ging mit mir noch am Ankunftstag mit stolzgeschwellter Brust durchs Städtchen. Jetzt galt es, sich für Amerika vorzubereiten, um dort fußzufassen. Ehe es soweit war, verlebte ich noch eine schöne Zeit, an die ich mich gern erinnere.
Mein Leben in Amerika ist eine weitere Geschichte, die demnächst als „Fortsetzung“ hierunter erscheinen soll. Schließlich haben 45 Jahre Neue Welt auch nicht wenig Stoff für einen „Fortsetzungsroman“geliefert.
Verfaßt von Walter G.Hartung, 6709 Pondview Dr Tinley Park, Illinois, 60477 USA im Jahre 2000